Kritisch, wach und heimatverbunden

Ilse Werder hat tiefe Spuren im gesellschaftlichen Leben des Main-Kinzig-Kreises hinterlassen. Foto: Privat/Cornelia Gasche

Ilse Werder hat mit 97 Jahren ein hohes Alter erreicht. Und doch war die Zeit zu kurz, als dass sie all ihre Vorhaben noch hätte umsetzen können: Am Sonntagabend ist die Journalistin, Autorin, streitbare Kämpferin für Frauenrechte und eine wichtige Stimme in der Hanauer Gesellschaft verstorben.

Region – Was Ilse Werder jedoch – wenngleich nicht persönlich anwesend – noch miterleben durfte, war die Würdigung von Elisabeth Selbert (eine der vier Mütter des Grundgesetzes) am Weltfrauentag, mit der sie 1954 für den Hessischen Landtag kandidiert hatte und die sie persönlich kannte. Bei der Veranstaltung im Historischen Rathaus wurden auch ihre Verdienste für Hanau und für die Frauen in Stadt und Kreis hervorgehoben. Wie viele Sozialdemokraten hatte sich die gebürtige Kasselanerin nach den Kriegserfahrungen vehement für Friedenspolitik und Demokratie eingesetzt.

Was in der Stadt und im Umland geschah, interessierte die Seniorin mit dem wachen Geist, die mit Unterstützung ihrer Kinder selbstbestimmt in ihrer Wohnung in der Röderstraße leben konnte, bis zuletzt. Schließlich hatte sie die Stadtpolitik und was um sie herum geschah nicht nur zurzeit ihrer Berufstätigkeit als Redakteurin der Frankfurter Rundschau begleitet und kommentiert, immer mit dem kritischen Bewusstsein einer Frau, die aus eigenem Erleben um gesellschaftliche Ungleichheiten wusste. Die Mutter von vier Kindern begann ihre Arbeit bei der FR nach der Trennung von ihrem Ehemann und dem Umzug aus Kassel in den 60er Jahren und musste in der neuen Wahlheimat Hanau Beruf und Familie als alleinerziehende Mutter unter einen Hut bringen.

Ihr Alltag mit Beruf und Kindern hinderte die Frau mit den schier unerschöpflichen Energien nicht daran, sich immer auch ehrenamtlich zu engagieren. Sei es mit ihren Initiativen zur Gründung des Vereins Frauen helfen Frauen als Wegbereiterin des Hanauer Frauenhauses, sei es mit dem Hanauer Kulturverein, mit der Hanauer Verbraucherberatung, mit ihrem aktiven Engagement innerhalb der SPD, deren Mitglied sie seit 1951 war oder damit, dass sie das Archiv Frauenleben des Kreises ins Leben rief.

„Geschichte wurde und wird nicht nur von Männern geschrieben“, war ihr Credo. Folglich widmete sie sich intensiv der Geschichte und den Geschichten der Frauen – in Gewerkschaft, Fabriken, im Arbeitsleben – überall dort gab sie ihnen nachträglich ein Gesicht und eine Stimme. 13 Bücher hat sie herausgegeben.

Zwei Dinge lagen Ilse Werder über ihr politisches und soziales Engagement hinaus am Herzen: Hanaus Geschichte, ganz speziell die des Hanauer Landes im Elsass. Dorthin hat sie auch im Rahmen des Hanauer Kulturvereins immer wieder Reisen organisiert und Kontakt gehalten.

Nicht minder engagiert war sie um das Brüder-Grimm-Andenken bemüht. Gerade im Vorfeld der großen Jubiläen 1985/86 brachte sie immer wieder in Erinnerung, dass Jacob und Wilhelm beileibe nicht auf die Rolle der „Märchenonkel“ reduziert werden können. Die großen Söhne Hanaus seien eben auch politische Menschen, Vorkämpfer der Demokratie und nicht zuletzt Wissenschaftler gewesen, die sich bereits im europäischen Rahmen bewegt hätten.

Politik und die Kommunalpolitik waren und blieben ihr, die sich als linksliberal verstand, wichtig. Mit der SPD – auch in der Brüder-Grimm-Stadt – haderte sie häufig, bedauerte, dass der kritische Diskurs in den Ortsverbänden zu kurz komme, wünschte sich, die Jugend möge sich stärker einmischen. Wenn ihr in der Stadtpolitik etwas aufstieß, meldete sie sich zu Wort. Kritisch äußerte sie sich etwa zur Weltkriegs-Ausstellung des Historischen Museums im Schloss Philippsruhe, die ihr zu militaristisch erschien. Dass sie vom damaligen SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel mit der Willy-Brandt-Medaille ausgezeichnet wurde, erfüllte sie mit Stolz. Es war nach Bundesverdienstkreuz, Landesehrenbrief, Kulturpreis, Ehrenbrief des Main-Kinzig-Kreises und der August-Gaul-Plakette eine weitere, späte Würdigung ihres Wirkens.

Bis ins hohe Rentenalter widmete sich die Unermüdliche ihren Recherchen zur Geschichte Hanaus und motivierte und begeisterte Mitstreiterinnen für ihre Themen – „Hexen“-Verfolgung, Tabakindustrie, die Geschichte der Gewerkschaften. Ihr zusammen mit einem Journalistenkollegen 2011 verfasstes „Lamboy-Buch“ gilt als vorbildlich für die Darstellung Hanauer Stadtteil-Geschichte. Die Pensionärin kaufte ein Bauernhaus in Katholisch-Willenroth und bot dort mit der von ihr gegründeten Kulturscheune Sängern, Literaten und weiteren Künstlern eine Plattform. Aus Liebe zur Natur und weil sie ihr Wissen gerne teilen wollte, ließ sie sich zur Pilzberaterin ausbilden, steckte bei ihren Kräuterwanderungen viele Menschen mit ihrer Begeisterung an, wie sie überhaupt zu einer Zeit eine Netzwerkerin war, als dieser Begriff noch nicht erfunden war.

Schließlich zog Ilse Werder wieder nach Hanau, kurz vor ihrem 93. Geburtstag vollendete sie ihr Buch „Der weite Weg zu Recht und Freiheit. Demokratisches Lesebuch“ und sammelte weiter Material für die Themen, die ihr am Herzen lagen. Dass ihr in den letzten Monaten zunehmend die Kraft und die Zeit fehlten, ihre Arbeit zu Ende zu bringen, bedauerte sie zutiefst.

VON JUTTA DEGEN-PETERS